•  
  •  

Die Creutzfeldt-Jakob Erkrankung - Ein Erfahrungsbericht
(Hilfe von Betroffenen für Betroffene)

Ich schreibe dies hier nieder für alle Öffentlichkeit, weil ich damals im Netz ebenso einen Erfahrungsbericht über diese so seltene Krankheit gefunden habe und mir dies sehr geholfen hat, mich irgendwie darin und damit zurechtzufinden, ja abzufinden. Vielleicht finden diese Worte hier ebenso zu einem Menschen, dem es helfen kann, zu verstehen, wo es eigentlich so gar nichts zu verstehen geben möchte.

Mein Bruder erkrankte mit 48 Jahren an der Creutzfeldt-Jakob Erkrankung (sCJD). Von der Diagnose bis zu seinem Ableben vergingen 6 Wochen. Die Symptome begannen schleichend etwa 7 Monate zuvor.

Wir halten uns (7 Tage vor deinem Tod)

Wie alles begann

Einen gewissen Lebensschmerz hast du schon immer verspürt. Auch hast du immer eine gewisse Ernsthaftigkeit an den Tag gelegt. Da waren wir uns ähnlich. Doch deine aufgestellte und freundliche, ja humorvolle Art machten den Grossteil deines Wesens aus. Keiner konnte so lachen, so feiern, so albern sein wie du, keiner so nachdenklich.

Irgendwann trieben dich deine Sorgen in die Schlaflosigkeit. So dachten wir zumindest. Depression? Burnout? Gerade Depression ist häufig eine Fehldiagnose, wenn es um jene schreckliche Erkrankung geht. Vielleicht war die Diagnose Depression einfach ein Wunschdenken von uns allen.

Ein undefinierbares Kribbeln im Körper kam dazu. Eine Art Ameisenhaufen innerhalb deines Körpers. Vielleicht das Adrenalin aufgrund des ständig erhöhten Stresspegels?

Es liegt in der Natur der Sache, dass man tausend Antworten sucht, um sich wohl selbst etwas zu beruhigen und damit doch meist komplett daneben liegt.

Schwindel kam hinzu. Dann Sehstörungen. Multiple Sklerose?

Plötzlich ein schwankender Gang. Dein geliebtes Biken und Autofahren, du musstest es einstellen. Dein bereits bestelltes neues Fahrrad, wo du dich so darauf gefreut hast und dir als Ziel der Genesung gesetzt hast, du musstest es abbestellen. Ich schrieb das Mail an den Hersteller in deinem Namen, weil du es bereits nicht mehr konntest. Du hast es mir in gebrochenen Worten versucht zu diktieren. Es zerriss mir das Herz, weil ich doch so wusste, wie sehr du dich darauf gefreut hast. Fortan wusste ich, dass du ahntest, dass es nie mehr so sein würde wie zuvor.

Dein Wesen veränderte sich. Deine Wortwahl, plötzlich so anders, so vornehm, so gewählt, wie nicht von dieser Welt. Doch es waren nur noch einzelne Worte, irgendwann gar keine mehr. Und du hattest unglaubliche Lust auf Schokolade. Plötzlich einen riesen grossen Appetit, so als benötigte deine Krankheit unmengen an Energiezufuhr. Deine Augen, sie blickten manchmal so komisch, manchmal schautest du an mir vorbei und zeigtest mir etwas, was hinter mir an der weissen, leeren Wand war. Du sahst Dinge, die ich noch nicht wahrnehmen konnte. Das freute mich für dich, denn ich ahnte, was du sahst.

Deine unzähligen Freunde auf all den sozialen Medien, sie schrieben dir oft, wollten wissen, wie es dir geht. Doch du kamst immer weniger nach mit antworten, denn deine Finger, deine Fähigkeit das Handy zu bedienen, schwand zusehends. Irgendwann hast du dich noch knapp einloggen können ins Handy und dann hast du es einfach auf den Tisch gelegt, weil du in Zwischenzeit vergessen hast, was du eigentlich damit tun wolltest.

Ich sandte dir nur noch einzelne Symbole, damit du nicht lesen musstest. Zum Beispiel einfach ein rotes Herz, das dann besonders gross im Display erscheint. Es sollte mir etwas Trost spenden, wenn du es gelesen hast, denn so wusste ich, du bist noch da. Es kam der Tag, wo es ungelesen blieb. Irgendwann lag dein Handy auf dem Beistelltischchen, wurde unwichtig, du hast es schlichtweg vergessen.

Deine Diagnose hast du im Spital erhalten. Wir durften dich dann nach Hause nehmen für die palliative Versorgung. Wir bauten eine Art Familien- und Freunde Konstrukt auf. Deine tapfere Ehefrau und deine 17jährige Tochter führten einen Einsatzplan. Jeder wusste, wann er im Einsatz stehen darf. Jeder half, wo er konnte, die Spitex mit eingebunden.

Um deine Kontakte zu informieren, was mit dir los ist, habe ich ein Profilbild mit einem Infotext geschrieben, erklärt, warum deine Antworten ausblieben. Der Schock war riesig, die Anteilnahme gross. Virtuelle Freunde wurden wieder zu echten Freunden, sie kamen dich zahlreich besuchen. Das war wunderschön anzuschauen.

Wir erfüllten dir deine letzten Wünsche. Machten Ausflüge. Deine Freunde holten dich ab, trugen dich ins Auto. So herzlich, so liebevoll.

Doch irgendwann ging es nicht mehr. Du konntest mittlerweile weder Laufen noch Sprechen. Der Rollator wurde durch einen Rollstuhl ersetzt. Irgendwann war nur noch das Verlegen in ein Hospiz möglich. Es brach uns allen das Herz. Wir fühlten uns schuldig.

Wenigstens spendeten dein schönes mit Holz getäfeltes Zimmer, du magst als Schreinerssohn Holz ganz besonders, die schöne Aussicht aus dem Fenster und das nette Pflegepersonal etwas Trost und all deine Freunde, die dich immer wieder besuchen kamen. Irgendwann wurden diese Besuche wegen Corona untersagt und weil es dir immer schlechter ging. Der verzweifelte Aufschrei deiner Freunde war gross, ich litt mit ihnen. Fortan waren nur noch die engsten Angehörigen erlaubt und in deiner letzten Nacht, noch 3 Personen. Deine Frau, deine Tochter und ich waren bei dir.

Wir wachten in deiner letzten Nacht an deinem Bett, 11 Stunden an deiner Seite, haben deine Lieblingsmusik gehört, haben dir Texte vorgelesen, gekuschelt, mit dir gesprochen, dir versucht die Angst vor dem Loslassen, dem Sterben zu nehmen – und sind innerlich selbst daran gestorben.

Du konntest loslassen. Wir konnten loslassen. Es ist ein gegenseitiges Loslassen. Ja, das ist es.

Zumindest für den Moment.

Ich habe mir bei dir bereits ein kaltes Bier aus der Engel Bräu bestellt. Und deine Bikerfreunde ebenso. Eines Tages werden wir wieder vereint sein, in welcher Form auch immer, wir werden uns erkennen. Unsere Seelen werden das, denn Liebe, sie ist unsterblich.

Ruhe in Frieden, mein Bruderherz. Danke, dass du mich beschützt hast, du mein grosser Bruder warst und weiterhin bist. Danke für die gemeinsame Erdenzeit.

Ich danke Gott, dass er mir die Kraft gab, dich liebevoll in deiner letzten Erdenphase zu begleiten.


Dezember 2020, für Harry Lehmann, 03.08.1972 - 21.11.2020

Text und Bilder: Silvia Cristini / Titelbild: Ein Plüschfüchslein zum Trost hat dich nach Hause begleitet. Bild links: Ich bin mir sicher, dass du bereits wieder am Biken bist.


image-11381939-_20210704_123722-8f14e.w640.JPG
Unter meiner Haut. So bist du immer bei mir, Bruderherz. (Bild: frisch tätowierter Unterarm)